Die Tragödie von
Adolf, Annie und Elisabeth

Lange Zeit hat man in der Familie Stolten nichts über den Namen Adolf Stolten gehört. Adolf war ein Ausgestoßener der Familie – Ob er daran selbst Schuld hatte, vermag ich nicht zu beurteilen, möchte ich auch gar nicht, denn ich kenne nur die eine Seite der Geschichte, nämlich die wie sie mir von Friedrich August Stolten, seinem Bruder berichtet wurde. Von Adolf selbst kann ich aufgrund der Tatsache, das ich erst 25 Jahre nach seinem Tod geboren wurde natürlich keine Stellungnahme erwarten. Und da es keinen Überlebenden gibt, der Adolf noch lebend gekannt hat, scheint diese Geschichte die einzige Version zu sein die bekannt ist. Ich möchte also die Geschichte ganz wertungsfrei so erzählen wie mein Opa sie mir erzählt hat.

Ich habe erstmals im Frühjahr 1990 von diesem Zweig der Familie Stolten gehört. Nie wurde auch nur ein Wort über Adolf, Annie seiner Frau und Elisabeth deren Tochter erwähnt. Sie existierten einfach nicht.

Wie kam es dazu, das die
Geschichte erzählt wurde?
Am 4. Juli 1985 verstarb Wilhelmine, die Schwester von Friedrich August Stolten (also auch die Schwester von Adolf Stolten) in Hamburg. Friedrich und Steffie baten mich und meine Frau (zu der Zeit noch meine Freundin) ihnen bei der Auflösung der Wohnung von Wilhelmine (Tante Wilma) zu helfen. Das taten wir auch. In der Wohnung von Wilhelmine fanden sich unter anderem sehr alte Familienfotos die bis dahin verschollen waren. Unter anderem auch die Fotos von Adolf, Annie und Elisabeth.
Friedrich und Steffie Stolten nahmen die Fotos an sich und behielten sie vorerst. Im Frühjahr 1990 fragte mich mein Opa ob ich die Fotos aus Wilma’s Wohnung haben wolle. Bis dahin wußte ich nicht einmal das diese Fotos existieren, und das Friedrich und Steffie die Fotos 5 Jahre zuvor in Wilma’s Wohnung gefunden und behalten hatten. Hätte ich das gewusst, wäre ich schon viel früher daran interessiert gewesen diese einmal zu sehen.

Wenn ich die Fotos nicht haben wolle, so Friedrich, würde er sie in die Mülltonne werfen. Eine merkwürdige Situation. Ich spürte deutlich das Friedrich schon insgeheim wollte und hoffte das ich die Fotos annehme. Er konnte es aber nicht zugeben und machte so den Umweg über die Drohung die Fotos zu vernichten. Irgendwie hatte ich das Gefühl, er wollte das die Fotos weiter gegeben werden, er wollte so ausdrücken das er trotz seiner oftmals ablehnenden Art gegenüber manchen Familienmitgliedern doch Familiensinn hatte. Er konnte es sich nur nicht eingestehen. Die Situation hatte für mich die Atmosphäre davon etwas weitergeben zu wollen, so etwas wie ein Vermächtnis – und seinen Frieden mit der Vergangenheit machen wollen.

Na klar habe ich zugegriffen. Gleichzeitig übergab er mir den Ariernachweis den er zu Kriegszeiten anfertigen musste und erzählte mir zu jedem Foto eine kleine Geschichte. Als wir bei den 3 Fotos von Adolf, Annie und dem Baby Elisabeth anlangten und ich auch über diese Familienmitglieder etwas erfahren wollte, wurde Friedrich nervös, seufzte tief in sich hinein und sagte sichtlich berührt: “Darüber habe ich lange nicht geredet, weil ich Adolf hasse und er seit der Geschichte damals für mich nicht mehr existiert hat”. Jetzt wurde ich natürlich neugierig und ließ nicht locker den alten Mann auszufragen. Tatsächlich wurde mir kurz bevor Friedrich im Juni 1990 verstarb noch die Ehre zuteil das er mir die Geschichte die er nie erzählte, mitteilte.

Dies ist die Geschichte...
Adolf war verheiratet mit Annie, einer sehr netten und schönen Frau, wie Friedrich sagte. Friedrich mochte Annie offenbar sehr gerne – als Schwägerin. Während Adolf wohl eher ein Mensch war der sich auch mal ganz gerne alleine amüsierte, und wohl auch anderen Frauen nicht abgeneigt war. Ganz im Gegenteil zu Friedrich. Mein Gefühl bei Friedrichs Erzählung war, das Friedrich auf den älteren Bruder Adolf, der obendrein auch noch gut aussah, eifersüchtig und neidisch war. Er redete verächtlich davon, das Adolf sein Aussehen und sein Wirkung bei den Frauen ausnutzte. Offensichtlich war Adolf ein Mensch, dem vieles einfach so zuflog.

Nun, eines Tage kam es wie es bei so einer Geschichte kommen musste. Annie, Adolf’s Frau bemerkte irgendwann das ihr Mann fremd ging. Es gab einen riesen Krach und Annie weinte sich unter anderem auch bei Friedrich aus, der daraufhin seinen älteren Bruder ins Gebet nahm und ihm Vorwürfe machte. Man muß sich vor Augen halten, das Friedrich zu der Zeit ca. 21 Jahre alt war, während Adolf schon 32 Jahre alt war. Wahrscheinlich wird der ältere Bruder dem Jüngeren kaum Beachtung geschenkt haben, denn das Reden nützte wenig und Adolf amüsierte sich weiterhin mit anderen Frauen. Ob nun mit ein und der selben Frau oder mit verschiedenen ist mir nicht bekannt.
 
Annie Stolten, geborene HaaseElisabeth Stolten
Adolf Stolten Junior
Annie hat das alles sehr belastet. Es gab für sie keinen Ausweg dem Gerede der Leute, und der Schande zu entfliehen. In den frühen 1920er Jahren war es für eine verheiratete Frau mit Kind, die ja keinen Beruf hatte eine Katastrophe sich scheiden lassen zu müssen. Sicherlich hatte Annie ihren Adolf auch geliebt. Die Schande als Ehefrau versagt zu haben, die verlorene Liebe und die aussichtslose Zukunftsperspektive als gescheiterte Frau ließen für Annie nur einen Ausweg zu. 1923 tötete Annie erst die gemeinsame 5 jährige Tochter Elisabeth und dann sich selbst.

Adolf wurde von nun an von der Familie geächtet und ausgestoßen. Ob nun von der ganzen Familie oder nur von einigen Mitgliedern weiß ich nicht. Ein Tatsache ist aber, das Wilma die Fotos über die vielen Jahre aufbewahrt hatte. 1933, also 10 Jahre später setzte Adolf ebenfalls selbst seinem Leben ein Ende. Warum weiß ich nicht, das konnte Friedrich mir auch nicht erklären. Er hatte 1933 schon 10 Jahre keinen Kontakt mehr zu seinem Bruder gehabt. Die Vermutung ist aber, und das ist Friedrich’s Auslegung, das Adolf die Schuld am Tod seiner Frau und Tochter nicht mehr tragen konnte und dann freiwillig aus dem Leben ging. Selbst als Friedrich 1938 den Ariernachweis erstellen musste schrieb er als Todesursache bei Adolf, “Herzschlag ?”

Meine eigenen
Gedanken dazu:
Friedrich war ein Mensch der leidenschaftlich hassen und nur schweren Herzens verzeihen konnte. Er bat glaube ich niemals oder nur sehr selten um Verzeihung. Und wenn derjenige der von Friedrich’s Hass betroffen war nicht von sich aus kam, dann war damit die Beziehung so lange beendet bis derjenige den Kontakt zu Friedrich von sich aus wieder aufnahm. Friedrich kam meines Wissens nie. Er war deswegen kein schlechter Mensch, er hatte nur große Probleme damit sich selbst einzugestehen das auch er Schwächen hat wie jeder Mensch. Sein Egoismus, seine scheinbare Lieblosigkeit waren sicher nur Ausdruck seiner großen Unsicherheit und die Angst davor zu Versagen oder als nicht Stark zu erscheinen. Im Prinzip die Angst vor Kontrollverlust. Er hatte sicherlich eine gehörige Portion Minderwertigkeitskomplexe die er mit seinen Launen versuchte zu verdecken.
Von den Fotos aus dem Nachlaß von Wilma wußte lange Zeit niemand etwas, weil Friedrich lange Jahre keinen Kontakt zu Wilma hatte. Den Grund kenne ich nicht. Friedrich hatte meines wissens nur zu einem seiner Geschwister ständigen Kontakt und das war Henriette, die allerdings weit von Hamburg entfernt in Leer/Ostfriesland lebte. Vielleicht genau deswegen. Bis zu Wilma’s auftauchen in der Familie, etwa Anfang der 1980er Jahre war ich mir ihrer Existenz nicht einmal bewusst. Ich selbst kannte sie nur noch als alte, gebrechliche Frau. Wilma wohnte nur wenige Kilometer von Friedrich und Steffie entfernt in Hamburg Farmsen. Und doch gab es über viele Jahre keinen Kontakt.
Am Ende seines Lebens, als Friedrich mir die Fotos übergab war er sehr viel weniger hasserfüllt, ja sogar herzlich aufgelegt. Er scherzte, war guter Laune und war sogar in der Lage mir die Geschichte von Adolf zu erzählen. Ich glaube das Friedrich am Ende seines Lebens, bewusst oder unbewusst, eingesehen hat das die Familie ein wichtiges Gut ist um das es sich lohnt seine Eitelkeiten abzulegen. Friedrich’s letzte Botschaft einen oder zwei Tage vor seinem Tod ging an seinen Sohn Gerhard Stolten (mein Vater). Sie lautete: “Halte die Familie locker zusammen.” Als Friedrich sich einige Tage zuvor von seiner im sterben liegenden Frau Steffie verabschiedete, küsste er sie und sagte zu ihr: “Ruhe sanft bei Wilma .” Nun hatte er sich mit Wilma zu Lebzeiten und vielleicht auch ein wenig mit seinem Bruder Adolf im Tod ausgesöhnt, ihm vielleicht ein wenig verziehen.


© 2002 by Heiko Stolten · Hamburg

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